Freitag, 16. September 2011

ἀλήθεια - Gedanken zum Wesen der Wahrheit.

[ἀλήθεια - Gedanken zum Wesen der Wahrheit.]

„Ich bin der Weg, die Wahrheit, und das Leben“, sagte einst ein Mann namens Jesus von Nazareth. [Joh. 14:6] Doch der römische Präfekt Pontius Pilatus sah sich schon damals gezwungen nachzuhaken „was ist Wahrheit?“[Joh. 18:38]. Eine doch ziemlich berechtigte Nachfrage angesichts der Tatsache, dass es durchaus unterschiedliche Ansichten darüber gibt, was Wahrheit an und für sich eigentlich ist.

Mit der Aussage „jede Wahrheit“ brauche „einen Mutigen, der sie ausspricht“, warb einst eine große deutsche Boulevardzeitung. - Doch sind die Diffamierungen, die jene Zeitung allzu häufig abdruckt wirklich als Wahrheiten zu bezeichnen? - Ehrlicher und wohl auch der Wahrheit verbundener war da eventuell schon Plinius der Ältere, der der Ansicht war nur im Wein sei die Wahrheit zu finden. Nietzsche hingegen war der Ansicht „nichts“ sei wahr, und „alles erlaubt“. Die Antiken Sophisten wiederum glaubten es gäbe für jedes Volk und für jede Zeit, ja eventuell sogar für jeden einzelnen Menschen andere, subjektive, Wahrheiten, da sich ja auch Sitten und Gebräuche, Religionen und Philosophien - und damit auch die Ansichten darüber was Wahrheit sei - von Zeit zu Zeit und Ort zu Ort unterschieden.

Das Problem an letzterer Ansicht ist, dass die Wirklichkeit - und damit die Wahrheit - so man davon ausgeht, dass diese nicht nur pure Einbildung des menschlichen Verstandes ist, fast zwangsläufig eine bestimmte wirkliche - d.h. eine Wahre - Form haben muss. So wies schon Aristoteles darauf hin, dass „Eine falsche Aussage (...) die Aussage (sei), dass das was ist nicht sei, oder dass das was nicht ist sei; eine wahre Aussage dagegen (...) die Aussage, dass das was ist sei, und dass das was nicht ist nicht sei.“ [Aristoteles, Metaphysik 1011b, 81]

Um dieses Problem zu lösen gehen Konsensbasierende Theorien der Wahrheit heute in der Regel davon aus, dass es unter den Menschen eine Art ‚intersubjektives Erkenntnisbewusstsein‘ gibt. „Sprich: Was jeder Mensch subjektiv und empirisch gleichermaßen als wahr erlebt, muss auch tatsächlich wahr sein.

Doch was machen wir mit all jenen subjektiven Ansichten und ‚Wahrheiten‘, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden? Sind diese generell wahr? Sind diese gar generell unwahr?

Um dies zu klären lohnt es sich ein kleines praktisches Beispiel zu betrachten:

Person A verhält sich aus der eigenen Sicht gegen Person B stets gebührlich. Person B hingegen wirft alsbald Person A vor, sich ihr gegenüber ungebührlich verhalten zu haben. Person A scheint dieser Vorwurf nicht gerechtfertigt, und ist sich keiner Schuld bewusst. Ebenso schlägt sich die breite Masse auf Seiten Person As, weil Person B schon des öfteren ‚unwahre‘ Vorwürfe gegen wieder andere Personen erhob.

Liegt in unserem Beispiel nun die Wahrheit auf  Seiten Person As und der Masse, oder vielleicht doch in den Händen Person Bs? Welche der Ansichten stimmt in diesem Fall. Ich denke die Antwort muss lauten: Auch wenn die Vorwürfe Seitens ‚B‘ rein objektiv nicht haltbar sind, sind sie dennoch eventuell wahr, und zwar für Person B selbst. Ihre Vergangenheit, oder die Denkprozesse von ‚B‘ mögen sie dazu bewogen haben, dass sie etwas ‚Unwahres‘ für sich (fälschlicherweise?) als ‚wahr‘ definierte. -  Solange man aber der Meinung ist, dass Wahrheit zumindest einen subjektiven Teilcharakter hat - und ich tendiere zu dieser Meinung -  muss man zumindest zugestehen, dass andere Menschen die Wirklichkeit anders wahrnehmen als man es selbst tut, und dass damit ‚unwahre‘ Ansichten, welche Andere eventuell vertreten, zumindest nachzuvollziehen sind. Zu rechtfertigen, das nicht zwingend. Aber nachzuvollziehen.

Es ist also zu dem Schluss zu gelangen, dass Wahrheit etwas ist, was in weiten Teilen sehr vom subjektiven Wahrnehmen der Wirklichkeit abhängt.

Doch welche Konsequenz ist nun aus jener Erkenntnis zu ziehen?

Ich denke in erster Linie jene, dass man auf Fehlverhalten und ‚Unwahrheiten‘ Anderer eventuell wesentlich gelassener reagieren sollte.

Oder um es mit Epiktet zu sagen:
„Wenn jemand schlecht an dir handelt oder schlecht über dich redet denke daran, dass er dies tut oder sagt, weil er glaubt er müsse es tun. Er kann unmöglich deiner Sicht der Dinge folgen, sondern nur der eigenen. (...) Gehst du von dieser Einsicht aus, so wirst du deinem Beleidiger gelassen begegnen. Sage dir nämlich jedes mal: Es schien ihm eben richtig so.“ [Epiktet, Handbüchlein der Moral, Aphorismus 42]

 Ich selbst werde zumindest versuchen - auch aus dem Bewusstsein heraus, dass mir das in der Vergangenheit nicht immer gelang - nach jener Maxime zu leben. Ob es mir immer gelingt ist hierbei eine ganz andere Frage.

- Der Schattenpoet -